Sucht – ein Thema, das uns fast alle betrifft in unterschiedlichster Form und Ausprägung. Vor allem aber ein Thema, mit dem ich persönlich bestens vertraut bin. Man könnte fast schon sagen die Sucht ist ein alter Du-Freund von mir!

Ich habe einen großen Teil meines Lebens mit Süchten verbracht. Habe dagegen gekämpft, oftmals verloren, im besten Fall die eine durch die andere ersetzt und mich im Großen und Ganzen immer schlecht und falsch dabei gefühlt.

Bereits als Kind gehörte süchtig zu sein zu meinem Leben, da meine Eltern beide starke Raucher waren und meine Mutter zu trinken begann als ich etwa 9 Jahre alt war. Für mich war Abhängigkeit etwas, das zum Alltag gehörte. Etwas, das man darum gar nicht erst hinterfragt. Jedes Gefühl, jeder unangenehme Gedanke wurde mit der Sucht betäubt. Damit ließ sich das Leben für meine Eltern und dadurch auch für mich leichter ertragen.

Meine Mutter war, wie ich schon damals wahrnehmen konnte, immer von schlechtem Gewissen, Schuldgefühlen und Unterforderung geplagt. Nicht verwunderlich also, dass mich diese vertraute Energie viele Jahre begleitete, auch als ich dann selbst Mutter wurde.

Bereits mit 14 Jahren begann ich selbst zu rauchen und es fühlte sich sofort so vertraut und tröstend an, sodass ich von diesem Tag an mehr als 20 Jahre brauchte, um mich aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Denn auch wenn ich zwischendurch mal länger die Finger von den Zigaretten ließ, war ich dennoch süchtig.

Kurz darauf begann sich auch mein Essverhalten zu verändern. Ich weigerte mich monatelang mehr als 450 kcal zu mir zu nehmen, nahm dramatisch ab und fühlte mich dennoch zu viel und zu dick. Der Verzicht und der Gewichtsverlust fühlten sich so gut und leicht für mich an – jedes Gramm war ein Erfolg! Ich hatte ein Ziel und das erste Mal im Leben das Gefühl etwas richtig gut zu können, den anderen sogar überlegen zu sein und wirklich richtig zu sein in dieser für mich verkehrten und schwierigen Welt. Wobei ich damals nicht die Welt für verkehrt hielt, sondern mich.

Nachdem Essstörungen Ende der 80er Jahre noch nicht so bekannt waren, gab es selbst dann keine Unterstützung, als ich danach fragte, weil ich erkannt hatte, dass ich nicht mehr frei, sondern süchtig war. Ich fühlte mich alleine mit meinem Problem und in meinem Körper gefangen.

Mein einziges, tatsächliches Ziel – wirklich frei zu sein und mich gut und richtig zu fühlen – war kaum mehr zu erreichen, da sich alles um Essen oder besser gesagt nicht Essen drehte und meine Selbstdisziplin langsam nachließ. Ich fühlte mich nur noch schlecht, vor allem da die Magersucht in Esssucht umschlug und die Gier, die sich in mir angesammelt hatte, ein Ventil suchte. Ich aß ständig und in riesigen Mengen, um ein Loch zu füllen, das nicht sichtbar war. Die Lücke, die ich hinterlassen hatte, als ich beschlossen hatte mich selbst zu verlassen. Ich war sozusagen raus aus dem Spiel, das sich Leben nannte, nur wusste ich damals noch nichts davon. Ich nahm in kürzester Zeit fast 40kg zu und war todunglücklich.

Der Kampf mit oder gegen das Essen beherrschte mein Leben mehr als 15 Jahre lang. Mal mehr, mal weniger. Ich hatte keine Ahnung mehr wie man sich „normal“ ernährt und wie ein Leben funktionieren sollte, wo man ohne Kontrolle Nahrung zu sich nimmt.
In den späten Zwanzigern landete ich dann erstmals bei einer Psychotherapeutin und Spezialistin, der ich noch heute sehr dankbar bin. Durch sie erahnte ich erstmals, dass die Sucht damals für mich lebenswichtig und ich keine Versagerin war.

Spannend übrigens, dass ich in meinen beiden ersten Schwangerschaften weder zur Zigarette greifen wollte, noch Probleme mit dem Essen hatte. In diesen insgesamt 18 Monaten war die Lücke gefüllt und ich fühlte mich glücklich und gebraucht – ja richtig nützlich!

Auch Medikamente wurden in den darauffolgenden Jahren zur Sucht bei mir, ebenso wie Perfektionismus und das Lesen von Fantasy Romanen. Ich schaffte es immer noch nicht mich ohne Sucht gut und meinem Leben wirklich gewachsen zu fühlen. Eine verheerende Mischung aus Flucht, kurzen Glücksmomenten und dem Gefühl nicht falsch zu sein bzw. Frust, wenn ich wieder in der Realität landetet und mich schwach fühlte, weil ich der Sucht nicht widerstand. Es verstand sich von selbst, dass die meisten meiner Süchte im Verborgenen blieben. Es war etwas, für das ich mich unheimlich schämte.

Aber trotz allem hatte ich all diese Jahre über so etwas wie ein inneres Wissen, das mir immer wieder die Kraft gab weiter zu machen, erneut zu versuchen mich zu befreien. Meine Mutter, die in meinen 30ern bereits ihren 15. Entzug hinter sich hatte, beschrieb es immer als enorme Kraft, die sie sich selbst absprach.
Aber hatte ich wirklich mehr Kraft, mehr Willen oder Durchhaltevermögen? Oder war da einfach etwas in mir, das schon damals wahrnehmen konnte, dass es mehr geben musste im Leben als Tag für Tag auszuhalten und durchzustehen?

Durch meine Ausbildungen und die damit verbundene Arbeit an mir selbst in Form von Selbsterfahrung, Aufstellungen und Coachings, veränderte sich langsam aber sicher mein Leben. Ich lernte mich immer mehr anzunehmen wie ich war mit all meinen scheinbaren Schwächen. Ich begann mich im Lauf der Zeit sogar wirklich zu lieben und beschloss mich einfach nicht mehr selbst im Stich zu lassen, sondern auf mich zu zählen, komme was da wolle. Natürlich brachte das jede Menge Veränderungen im Außen mit sich. Meine älteren Kinder können ein Lied davon singen. 2 Scheidungen, Umzüge, Jobwechsel und mehrere Ernährungsumstellungen waren unter anderem Ausdruck meines Prozesses und meinem Weg zurück zu mir. Und ja, ich habe mich auch dafür wieder verurteilt und schlecht gefühlt, denn die beiden Kinder mussten wegen mir leiden. Oder gab ich ihnen am Ende sogar die Möglichkeit zu erkennen, was alles möglich ist im Leben? Dass nichts unveränderbar ist? Dass man sich nicht scheuen soll, Entscheidungen zu treffen, wenn etwas nicht mehr stimmig ist? Dass man die Hauptrolle im eigenen Leben spielen darf und das nicht unbedingt ein Drama sein muss?

Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil ich heute unendlich dankbar bin für all meine Entscheidungen und meinen Weg, der mich genau zu diesem Menschen gemacht hat, der ich jetzt bin. Ich bin seit Jahren ohne Sucht – die Suche hat ein Ende. Mir ist nun klar, dass ich nie schwach war, sondern meine Süchte sehr lange hilfreich und nützlich für mich waren. So lange bis ich eine Möglichkeit für mich entdeckt hatte, mich auch ohne sie gut und nicht mehr falsch zu fühlen.

Ich weiß jetzt, dass ich genau wie ich bin richtig bin und niemandem mehr glauben muss, der etwas Gegenteiliges behauptet. Ich habe das Glück und die Freude Menschen auf ihrem Weg zu sich selbst begleiten zu dürfen und unterstütze sie dabei zu erkennen, dass sie richtig und vollkommen sind.

Heute kenne ich Werkzeuge, die ich nutzen kann, wenn ich mich mal nicht gut fühle oder sich Zweifel einschleichen. Ich weiß jetzt, dass viele meiner Gefühle und Gedanken nicht mal meine eigenen sind und niemals waren und kann damit umgehen. Vor allem aber weiß ich, dass ich jederzeit alles verändern kann und nichts hinnehmen muss. Und ich bin fest davon überzeugt, dass das für jeden Menschen möglich ist. Das Leben darf einfach gelebt werden, sich leicht anfühlen und Spaß machen … jeden einzelnen Tag!